Wednesday, February 01, 2012


Erdogan, 50 plus
Was der Sieg seiner Partei für die türkisch-israelischen Beziehungen und die Juden im Land bedeutet
16.06.2011 – von Julia Damianova


Atatürks Erbe: Premierminister Recep Tayyip Erdogan will die Türkei modernisieren.© Reuters
Die Türkei hat gewählt und sich entschieden: Der alte und neue Premierminister heißt Recep Tayyip Erdogan. Seine Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) erhielt fast die Hälfte aller Wählerstimmen, verfehlte jedoch die gewünschte Zweidrittelmehrheit, um im Alleingang eine angestrebte Verfassungsänderung durchsetzen zu können.

Für Erdogan bedeutet der Sieg die dritte aufeinanderfolgende Amtsperiode an der Spitze der Regierung in Ankara. Die 50 Prozent Unterstützung, die sich AKP bei den Wählern holen konnte, war keine große Überraschung. Seine einstmals als islamistisch geltende Partei genießt mittlerweile im Land einen liberalen Ruf. Erdogan hat es ermöglicht, dass die griechisch-orthodoxe Kirche in der Türkei ihren Besitz zurückbekommt und ihre Akademie bald wieder eröffnet. Die Kurden dürfen Radio- und Fernsehsendungen in eigener Sprache empfangen und diese zudem offiziell erlernen.

Auch für die etwa 26.000 Juden im Land sehen die Dinge besser aus, seit die AKP an der Macht ist, sagte kürzlich der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Istanbul. AKP-Chef Erdogan verspricht Modernisierung – eine neue Brücke über den Bosporus ist geplant, seine Regierung bemüht sich um eine bedeutendere internationale Rolle des Landes – vor allem im Nahen Osten, wo sich die Türkei als Beispiel für andere muslimische Gesellschaften präsentiert. Das ist eine Außenpolitik, die auch dem Selbstbewusstsein der Menschen schmeichelt.

GAZAFLOTTE Aber gerade während Erdogans letzter Amtsperiode gerieten Ankaras Beziehungen zum ehemaligen engen Partner in der Region, Israel, plötzlich in eine Krise. Anlass war Jerusalems Militäroperation gegen die Gaza-Flottille vor einem Jahr. Man kann aus Erdogans Rhetorik »eine Art Antisemitismus« heraushören, sagt der türkische Politologe Emre Erdogan. Allerdings sei der Premierminister »ein pragmatischer Führer, und die AKP ist eine typische, pragmatische konservative rechte politische Bewegung«.

Dies bedeute, dass – wann immer Erdogan die Stimmen nationalistisch gesinnter Wähler brauche – er es bevorzuge, Israel zu attackieren. Außerdem glaube »die AKP-Führung wirklich an eine Verschwörung zwischen den neokonservativen Kreisen in Washington und einem Imperialismus im Lieberman-Stil seitens Israel gegen die jetzige Regierung« in Ankara. Trotzdem hege die AKP nicht generell gegen alle israelischen Regierungen Vorurteile – schließlich hat man Israels Präsidenten Schimon Peres 2007 im türkischen Parlament empfangen.

Trotz der starken Anti-Israel-Rhetorik Erdogans blühen die Wirtschaftbeziehungen zwischen beiden Ländern. Im ersten Quartal dieses Jahres ist die Türkei zum drittwichtigsten Exportmarkt für den jüdischen Staat aufgestiegen, schreibt die Finanzzeitung Globes. Das heißt, sie kommt gleich nach den USA und den Niederlanden und knapp vor Deutschland. »Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Türkei und Israel werden immer stärker trotz der politischen Konflikte«, bestätigt auch der Vor- sitzende der Tel Aviv & Central Israeli Chamber of Commerce, Uriel Lynn.

EXPORTE Der bilaterale Handel zwischen beiden Ländern sei um 25 Prozent zwischen 2009 und 2010 gestiegen. In diesem Jahr sind das weitere 40 Prozent, berichtet die Zeitung »Dunya«. Auf der Liste mit türkischen Exporten nach Israel seien auch Schuhe und Uniformen für die Armee.

Populismus Der Politologe Erdogan erwartet von der neuen Regierung in Ankara eine nüchterne Außenpolitik. »Ich glaube, dass die neue türkische Außenpolitik von der Suche nach Handelsbeziehungen und dem Schaffen einer Wirtschaftshegemonie in der Region angetrieben wird.«

Da aber bereits 2013 die nächsten Wahlen im Land anstehen – zunächst Regional-, dann Präsidentschaftswahlen 2014, rechnet der Wissenschaftler damit, dass türkische Politiker außenpolitische Themen weiter für populistische Zwecke zu Hause nutzen werden.


"Erstmals bestimmt die Regierung, wer die Armee führt"
INTERVIEW | 31. Juli 2011 18:01


Foto: infakto
EMRE Erdogan (40) ist Politikwissenschafter, unterrichtet Statistik an der Bilgi-Universität in Istanbul und leitet die Meinungsforschungsgruppe "infakto".

Der türkische Politologe Emre Erdogan sieht in der Bewältigung der Armeekrise einen Fortschritt für die türkische Demokratie
Erstmals habe die Regierung die Führungsfrage entschieden, sagte er Markus Bernath. Erstmals habe die Regierung die Führungsfrage entschieden, sagte er Markus Bernath.

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Standard: Was bedeuten die Rücktritte an der Armeespitze und die anschließende Neubesetzung für die Entwicklung der türkischen Demokratie?

Erdogan: In der Türkei hat die Armee immer selbst entschieden, wen sie wohin setzt. Es war ein festgelegtes Verfahren: Wer einmal Kommandeur der Ersten Armee wurde, konnte sicher sein, dass er zwölf Jahre später Chef der gesamten Armee würde. Mit dem Putsch von 1980 ist eine ganze Generation von Militärführern ausgewählt worden. Was nun geschah, ist eine Normalisierung. Es ist praktisch das erste Mal, dass die Regierung entscheidet, wer die Armee im Land führt.

Standard: Welche Auswirkung haben mittlerweile die Verhaftungen im Zuge der Justizermittlungen zu Putschplänen auf das Verhältnis zwischen Armee und Regierung?

Erdogan: Erdogan nimmt die Ermittlungen im Ergenekon-Fall persönlich. Er ist in dieser Hinsicht sehr unnachgiebig. Einige der Generäle, die nun angeklagt sind, sollen hinter den Propaganda-Webseiten gegen die AKP stehen. Erdogan kann das alles nicht akzeptieren. Er verweigert deshalb zum Beispiel die Beförderung von General Saldiray Berk, dem Chef des Ausbildungskommandos der Landstreitkräfte.

Erdogan will, dass die Armee die Regierung anerkennt. Er weiß, dass er nicht gegen die Führung kämpfen kann, er braucht deren Unterstützung. Seine Regierung hat also eine Art Balance gefunden: Sie redet der Armee nicht in das Budget hinein, dafür will sie den Respekt des Militärs vor der gewählten Führung des Landes.

Standard: Die Armee ist nach dem schweren Angriff der PKK auf einen Soldatentrupp in Silvan Mitte Juli in der Öffentlichkeit stark kritisiert worden. Welchen Einfluss mag das auf die Rücktrittsentscheidungen der Generäle gehabt haben?

Erdogan: Der Angriff in Silvan hat eine Reihe von unbequemen Fragen aufgeworfen, das ist richtig. Die Kritik am Einsatz dort fiel mit dem Rücktritt zusammen, es ist eher ein Zufall. Wichtiger ist, sich vor Augen zu halten, was in den 1990er-Jahren dort im Südosten der Türkei geschehen ist. Die Armee regierte damals praktisch die Region, es herrschte Kriegsrecht. Die Frage heute lautet: Wer soll für den Kampf gegen die PKK verantwortlich sein? Die Armee oder die Regierung? Wenn es die Armee ist, kann sie diesen Kampf mit den Mitteln ihrer Wahl führen. Ist es aber die Regierung, dann sind die Generäle dem Verteidigungs- und dem Innenministerium gegenüber verantwortlich. Dahin müssen wir kommen.

Standard: Sehen Sie eine neue Generation demokratisch gesinnter Offiziere kommen?

Erdogan: Ich bin mir nicht sicher. Die Militärschulen stehen nicht allen offen. Junge Offiziere in der Türkei haben eher autoritäre Auffassungen - das ist mein Eindruck. Und wenn es zu Personalentscheidungen an der Spitze der Armee kommt wie jetzt, dann stehen strategische Überlegungen im Vordergrund und nicht etwa, wie tief die demokratischen Überzeugungen eines Kandidaten sind. (Markus Bernath, DER STANDARD, Printausgabe, 1.8.2011)

http://derstandard.at/1311802370604/Politologe-Erstmals-bestimmt-die-Regierung-wer-die-Armee-fuehrt